Im angloamerikanischen Raum werden Wissenschaftler:innen regelmäßig gewarnt: „Bloß nicht zu lang Postdoc bleiben!“ Diese Warnung vor einer langen Postdoc-Zeit bezieht sich auf die Phase, in der Wissenschaftler:innen nach der Promotion in Projekten mitarbeiten, die sie meist nicht selbst entworfen haben und die sie nicht eigenständig verantworten. „Postdoc“ steht hier für eine Übergangsphase, die noch von Abhängigkeit und Unselbständigkeit der Forschung geprägt ist.
In Deutschland wird der Postdoc-Begriff breiter und auch unschärfer gebraucht. Wenn er nicht die gesamte Phase zwischen Promotion und Professur meint, wird er meist zeitlich eingegrenzt: Die Max Planck-Gesellschaft etwa geht von maximal vier, die Leibniz-Gemeinschaft von maximal sechs Jahren Postdoc-Phase aus. Doch was kommt danach, wenn zwischen einer Promotion und einer Berufung auf eine Professur im Durchschnitt zehn Jahre liegen? Idealerweise soll nach diesen Konzepten eine weitere Qualifizierungs- und Bewährungsphase als Nachwuchsgruppenleiter:in oder Juniorprofessor:in folgen. Das würde der europäischen Klassifikation für Wissenschaftskarrieren (European Framework for Research Careers) entsprechen: Die maximal 4- oder 6-jährige Postdoc-Phase entspricht dem „Recognised Researcher“ (R2), darauf folgt eine Phase mit größerer Unabhängigkeit („Established Researcher“ R3), und dann kann der Karriereschritt zur W2- oder W3-Professur erfolgen („Leading Researcher“ R4).
Im deutschen Wissenschaftssystem ist jedoch an Stelle der R3-Phase ein großes Loch. Die R2-Phase zieht sich für die meisten hin, bis irgendwann der Sprung zur Professur kommt – oder der Ausstieg aus der Wissenschaft.
Established Researchers: Frühere Selbständigkeit für promovierte Wissenschaftler:innen
An deutschen Universitäten gibt es bisher kaum Stellen für „Established Researchers“ mit einer gewissen Unabhängigkeit. Weniger als 3.000 W1-Professuren und Nachwuchsgruppenleiterstellen stehen ungefähr 50.000 Stellen für promovierte wissenschaftliche Mitarbeiter:innen, Assistent:innen und vergleichbaren Stellen gegenüber (vgl. BuWiN 2021, B15, B21 und B8). Das heißt, dass die meisten Wissenschaftler:innen viel länger als vier oder sechs Jahre in den Strukturen eines R2-Postdocs bleiben, bis sie dann entweder auf eine W2- oder W3-Professur berufen werden, eine andere Dauerstelle bekommen oder die Laufbahn innerhalb des Wissenschaftssystems verlassen. Hier stellt sich die Frage: Ist eine so lange Phase als unselbständige:r Postdoc und ggf. ein direkter Übergang auf eine wissenschaftliche Führungsposition sinnvoll, sowohl aus individueller als auch aus systemischer Perspektive? Wäre es nicht stattdessen effektiver, mehr stabile und formal selbständige Positionen für eine R3-Phase vorzuhalten – oder zumindest mehr Merkmale der Selbständigkeit in die fortgeschrittene Phase auf einer Mitarbeiterstelle zu integrieren?
Die offensichtliche Lösung wäre die Schaffung von mehr Juniorprofessuren, kostenneutral zu erreichen durch die Umwandlung von W2- und W3-Stellen in W1-Stellen mit Tenure Track. Auch Nachwuchsgruppenleiterstellen aus Haushaltsmitteln wären attraktiv und in einem Department-Modell gut machbar. Bei Drittmittelprojekten könnten Postdocs häufiger in die Konzeption einbezogen werden und als Mitantragsteller:in auftreten, so dass sie anschließend kleinere Projekte eigenständig leiten und Budget- und Personalverantwortung übernehmen, auch wenn sie selbst als Mitarbeiter:innen einer Professur zugeordnet sind. Durch das Recht zur Promotionsbetreuung und ‑begutachtung sowie durch eigene Kostenstellen und Budgets können fortgeschrittene Wissenschaftler:innen mehr Eigenständigkeit gewinnen und dadurch als „Established Researchers“ mit den europäischen Kolleg:innen auf Augenhöhe agieren. Auch mehr Rechte in der Lehre, zum Beispiel bei eigenständigen Vorlesungen, wären wünschenswert. Was traditionell durch die Habilitation und Venia Legendi erreicht wird, müsste auch für habilitationsäquivalente Leistungen möglich sein.
All diese Möglichkeiten zu größerer Eigenständigkeit in der fortgeschrittenen Postdoc-Phase würden zu mehr Entfaltungsmöglichkeiten für promovierte Wissenschaftler:innen und zu einer besseren Strukturierung des wissenschaftlichen Karrierewegs beitragen. Fähigkeiten für eine wissenschaftliche Leitungsposition würden Schritt für Schritt erlernt, und die Berufung auf eine Professur könnte gut vorbereitet erfolgen.
Qualifizierungsbefristung für „Established Researchers“?
Ein zweites Problem der Übersetzung zwischen deutschem System und europäischem Modell ist die Personalstruktur an deutschen Universitäten, in der unbefristete Stellen am liebsten den R4-Wissenschaftler:innen, also den „Leading Researchers“, vorbehalten werden. Alles davor wird als sog. „Qualifizierungsphase“ deklariert, wenn es sich nicht um ohnehin befristete Drittmittelprojekte handelt. Die Qualifizierungsphase ist laut Wissenschaftszeitvertragsgesetz ein legitimer Befristungsgrund für Postdocs – bis zu sechs Jahren nach der Promotion, zuzüglich sog. eingesparter Promotionszeiten und zwei Jahren pro Kind. Wenn also die Promotion vielleicht fünf Jahre gedauert hat und Akademiker:innen im Durchschnitt 1,4 Kinder haben, dann wären das 6+1+2,8 und damit fast zehn Jahre Qualifizierungsphase nach der Promotion. Gibt es wirklich noch so viel zu lernen als Postdoc, bis endlich selbständige Forschung und Lehre möglich sind? Muss sich jemand als Wissenschaftler:in wirklich so ausführlich bewährt und bewiesen haben, damit die Fähigkeit für eine dauerhafte Berufstätigkeit in der Wissenschaft eingeschätzt werden kann? In jedem Berufsfeld gibt es Weiterbildungen und ohne lebenslanges Lernen kommt niemand aus, auch unbefristete Professor:innen nicht. Das ist aber kein Grund für befristete Verträge. Warum ist Weiterqualifizierung in der Wissenschaft ein legitimer Grund für befristete Arbeitsverträge?
Das Wissenschaftszeitvertragsgesetz mit der Qualifizierungsbefristung basiert auf der Annahme, dass es in der Wissenschaft nur den Beruf „Professor:in“ gibt. Aber diese Annahme ist falsch. Sie ist faktisch falsch, denn es gibt das Berufsbild des unbefristeten wissenschaftlichen Personals für Lehre und Forschung unterhalb der Professur. Dafür sind keine Habilitation oder äquivalente Leistungen erforderlich, schon gar keine 10-jährige Qualifizierungsphase nach der Promotion. Zudem ist die Annahme im internationalen Vergleich unplausibel, denn in anderen europäische Wissenschaftssystemen sind unbefristete Stellen für „Established Researchers“ normal.
Wenn man alle anderen Befristungsgründe für Haushaltsstellen in der Wissenschaft wegdenkt – den Wunsch nach freien Mitarbeiterstellen bei Neuberufungen von Professor:innen, die faktische Unkündbarkeit im öffentlichen Dienst gepaart mit meist unprofessioneller Personalauswahl ohne Mehraugenprinzip, die starken Gehaltssteigerungen je Erfahrungsstufe im TV-L und TVöD –, wie lang müsste die Zeit für die notwendige Qualifizierung als Wissenschaftler:in sein? Die Promotionsphase hat einen sehr hohen Qualifizierungsanteil und erst mit dem erfolgreichen Abschluss der Promotion wird die Fähigkeit bescheinigt, eigenständig zur Wissenschaft beizutragen. Hier ist gegen eine Qualifizierungsbefristung nichts einzuwenden. Danach wird es weniger eindeutig. In vielen Fächern (v.a. im MINT-Bereich) wird erst nach der Promotion zu eigenen Ideen geforscht, so dass sich die Fähigkeit zur Identifikation von Forschungsthemen und zur Konzeption von Forschungsprojekten erst dann zeigt. In anderen Fächern (v.a. Geisteswissenschaften) beginnt oft erst nach der Promotion der Schritt an die wissenschaftliche Öffentlichkeit mit Publikationen und Vorträgen, so dass erst dann die Teilnahme am wissenschaftlichen Diskurs und die Zusammenarbeit mit anderen Wissenschaftler:innen beginnen. Beides sind Voraussetzungen für eine erfolgreiche Arbeit als Wissenschaftler:in. Vielleicht wären es zwei bis drei Jahre als Postdoc, die noch für die Qualifizierung nötig sind. Vielleicht wären diese Jahre aber auch schon als Bewährungsjahre zu verstehen, analog zum Tenure Track: Die Qualifikation zur Wissenschaft ist da, die grundlegenden Fähigkeiten sind erlernt, aber es braucht noch ein paar Jahre Entfaltungs- und Beobachtungszeit vor einer endgültigen Entfristungsentscheidung.
Diese veränderte Perspektive auf die wissenschaftliche Weiterqualifizierung nach der Promotion hätte unmittelbare Auswirkungen auf das Wissenschaftszeitvertragsgesetz: Das Sonderbefristungsrecht zur Qualifizierung, das faktisch von der Unfertigkeit promovierter Wissenschaftler:innen für eine wissenschaftliche Dauerstelle ausgeht, dürfte bis maximal 3 Jahre nach der Promotion greifen. Die Universitäten und Forschungseinrichtungen müssten dann mehr Qualifizierungsstellen in Dauerstellen umwandeln, wenn sie nicht auf alle erfahrenen Postdocs im haushaltsfinanzierten Bereich verzichten wollten. Aus diesen Dauerstellen für erfahrene Postdocs, die idealerweise als R3-Stellen mit einer gewissen Unabhängigkeit ausgestaltet wären, könnten sich dann die Besten in Richtung einer wissenschaftlichen Führungsposition weiterentwickeln und sich deutschlandweit und weltweit auf Professuren bewerben.