Schon zum dritten Mal ist es innerhalb eines Dreivierteljahres auf Twitter zu einem Aufschrei über die Arbeitsbedingungen in der Wissenschaft gekommen: Nach den Hashtags #95vsWissZeitVG und #ACertainDegreeofFlexibility hat die von Amrei Bahr, Sebastian Kubon und mir ins Leben gerufene Aktion #IchbinHanna aber alle vorangegangen in den Schatten gestellt: 40.000 Tweets sind inzwischen von fast 11.000 verschiedenen Accounts abgesetzt worden – und es werden laufend mehr. Darüber hinaus hat die Aktion inzwischen auch fast alle traditionellen Medienhäuser erreicht.
Ausgangpunkt der Diskussion ist ein wiederentdecktes Erklärvideo des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) aus dem Jahr 2018 zum Wissenschaftszeitvertragsgesetz (WissZeitVG), dem großzügigen Sonderbefristungsrecht, das es Hochschulen und Forschungseinrichtungen erlaubt, Wissenschaftler*innen bis zu sechs Jahre vor und sechs Jahre nach der Promotion befristet zu beschäftigen (plus einige Sonderregelungen, die den Zeitraum noch verlängern können). Das WissZeitVG ist schon länger in der Kritik, weil es mustergültig für die hochproblematischen Arbeitsbedingungen steht, welche die meisten in der Wissenschaft Beschäftigten seit langem umtreiben und die unser Blog mit den 95 Thesen gegen das Wissenschaftszeitvertragsgesetz auf den Punkt bringt.
Vor diesem Hintergrund empfanden viele Wissenschaftler*innen das Video des BMBF als reinen Hohn, wird die Befristung dort doch damit als unabdingbar begründet, eine Generation solle „nicht alle Stellen verstopfen“. Schließlich ist Befristung – oftmals in Teilzeit, auf Kurzzeitverträgen und mit Phasen der Arbeitslosigkeit dazwischen – in der Wissenschaft vor Erreichen der Professur auf Lebenszeit die Regel, nicht die Ausnahme. Der oft gar nicht mehr so junge wissenschaftliche ‚Nachwuchs‘ sieht sich bis ins fünfte Lebensjahrzeit einer Situation ausgesetzt, keinen festen Lebensmittelpunkt zu haben. Dies bringt nicht nur zahlreiche Belastungen für die betroffenen Forscher*innen mit sich, sondern es ist auch von Nachteil für Forschung und Lehre: Die hochspezialisierten Arbeitskräfte verbringen ihre Zeit mit dem Schreiben von Bewerbungen und Anträgen sowie mit Einarbeitungsprozessen, statt zu forschen. Studierende sind mit ständig wechselndem Lehrpersonal konfrontiert und haben kaum verlässliche Ansprechpartner*innen und Betreuer*innen von Abschlussarbeiten.
Das Ministerium hat inzwischen das Video von seiner Homepage gelöscht und zwei Antworten zu #IchbinHanna veröffentlicht. Beide schlagen vorrangig einen anderen Ton an als das Video von 2018, dessen Wortwahl man nun als zu stark ‚zugespitzt‘ erkannt habe. Allerdings hat sich an den inhaltlichen Argumenten nicht viel geändert. Sowohl in der schriftlichen Antwort vom 13. Juni 2021 als auch in der Video-Botschaft von Staatssekretär Wolf-Dieter Lukas vom 17. Juni 2021 wird Verständnis für die betroffenen Wissenschaftler*innen geäußert. Im Anschluss allerdings wirbt das BMBF hier wie da jedoch seinerseits um Verständnis bei den betroffenen Wissenschaftler*innen, dass das Gesetz notwendig sei, weil sonst weniger Personen die Gelegenheit zur wissenschaftlichen Qualifikation bekämen. Man appelliert also mit anderen Worten an das Mitgefühl der wissenschaftlich Beschäftigten, doch bitte zukünftigen Generationen keine Bildungschancen zu verbauen. Freilich muss die Frage gestellt werden: Wozu sollen wir als Gesellschaft Menschen in großer Zahl für einen Beruf qualifizieren, den sie dauerhaft nicht ausüben werden? Denn noch einmal: Die Qualifikationen nach der Promotion, um die es hier größtenteils geht, sind auf dem Arbeitsmarkt außerhalb der Wissenschaft i.d.R. entweder zweitrangig oder sogar hinderlich und unbekannt (Habilitation und habilitationsäquivalente Leistungen).
Wenn das Ziel dieser Programme tatsächlich ist, mehr Planungssicherheit und Dauerstellen in der Wissenschaft zu schaffen, muss der Geldgeber Wege finden, die Zielerreichung sicherzustellen.
Darüber hinaus ist der Verweis auf die Zuständigkeit von Bundesländern und Hochschulen zwar nicht falsch, ignoriert aber die konkreten hochschulpolitischen Zusammenhänge. Dass das WissZeitVG ein Bundesgesetz darstellt, ist nur die eine Seite. Die zahlreichen Pakte und Programme, die Staatssekretär Lukas in seiner Videobotschaft noch einmal aufzählt – über den Zukunftsvertrag, das Tenure-Track-Programm und den „Pakt für Forschung und Innovation“ – führen dazu, dass der Bund in einem nie gesehenen Umfang an der Hochschulfinanzierung beteiligt ist, aus dem Verantwortung und Gestaltungsspielräume erwachsen. Wenn das Ziel dieser Programme tatsächlich ist, mehr Planungssicherheit und Dauerstellen in der Wissenschaft zu schaffen, muss der Geldgeber Wege finden, die Zielerreichung sicherzustellen.
Tatsächlich aber ist der Bund gerade über den zuletzt genannten Pakt für Forschung und Innovation wesentlich für den immensen Anstieg der Drittmittelvolumina zulasten dauerhafter Finanzierung verantwortlich: Die Budgets der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) wachsen inzwischen schneller als die Grundfinanzierung der Hochschulen und steigen, wie im Pakt für Forschung und Innovation festgelegt, jährlich um 3 %. Folglich trägt der Bund nicht nur durch das großzügige Sonderbefristungsrecht, sondern auch durch den spezifischen Einfluss, den er auf die Forschungsfinanzierung nimmt, wesentliche Mitverantwortung für die hohe Zahl an befristeten Stellen in der Wissenschaft. Darauf zu verweisen, die Hochschulen könnten es ja anders machen, weil die Rechtslage dies erlaube, blendet relevante Kontexte aus. Dass Hochschulen um Drittmittel konkurrieren, ist gewollt und gilt als Ausweis von Exzellenz. Folglich fließen kurzfristige Gelder – aus denen zahlreiche (Kurzeit-)Befristungen resultieren.
Will man ernsthaft etwas an den Bedingungen verbessern, zu denen derzeit Forschung und Lehre an deutschen Universitäten und Forschungseinrichtung stattfindet, hat der Bund mehr als genug Spielraum für einen Aufschlag. Das von Staatssekretär Lukas beschworene „Innovationsland Deutschland“ wird sonst langfristig seine besten Wissenschaftler*innen ans Ausland und an die Wirtschaft verlieren. Dies gefährdet Forschung und Entwicklung ebenso wie die Ausbildung der oft beschworenen Fachkräfte an den Hochschulen. Denn um diese – die Studierenden – geht es bei der Frage nach Aufstiegs- und Bildungschancen, nicht um Wissenschaftler*innen, die auf Zeitverträgen ihrem Beruf nachgehen und sich für die Leitungsposition der Professur weiterqualifizieren.
Dass man an Befristung und kurzfristiger Projektfinanzierung festhält und diese für den einzigen Weg zur Innovation erklärt, ist eine bewusste politische Entscheidung, die auf einer nicht nachgewiesenen Grundannahme beruht. Indem damit die Erfahrungen derer ignoriert sind, die tagtäglich in der Wissenschaft arbeiten und die negativen Folgen dieser Situation gerade eindrücklich anprangern, wird die Debatte nicht so schnell zum Erliegen kommen – selbst wenn der angeschlagene Ton ein anderer geworden ist. Dass dringend eine größere Reform nötig ist, beginnt sich langsam durchzusetzen: Während Bundesbildungsministerin Anja Karliczek die Argumente ihres Staatsekretärs auf Anfrage des Tagesspiegels nur noch einmal wiederholte, hält man in der SPD das Wissenschaftszeitvertragsgesetz inzwischen für unhaltbar. Die Entwicklungen in der neuen Legislaturperiode werden angesichts der diversen Reformvorschläge der Parteien mit Spannung zu beobachten sein. Die Politik sollte die vorliegenden Reformvorschläge wie die vom Netzwerk für Gute Arbeit in der Wissenschaft, der Jungen Akademie, der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft und der Deutschen Gesellschaft für Philosophie aufgreifen und umsetzen, damit sich endlich etwas ändert.